These zu Lese- und Rechtschreibschwäche: Legastheniker fehlt ein Rauschfilter - DER SPIEGEL

2021-12-02 02:32:40 By : Mr. Maurice Deng

Leseschwäche: US-Forscher stellen Paradigma zur Legasthenie in Frage

Die Buchstaben wollen einfach keinen Sinn ergeben. Allein in Deutschland haben rund vier Millionen Menschen aufgrund von Legasthenie Schwierigkeiten beim Lesen oder Schreiben. Die Ursache für die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten konnten die Forscher bislang jedoch nicht eindeutig identifizieren. Sicher ist nur, dass diese Leute die Lauteinheiten eines Wortes nicht richtig trennen können. Mit fatalen Folgen: Ohne diese Fähigkeit ist es sehr schwer zu lernen, wie Buchstabenfolgen ausgesprochen werden und wie man das gesprochene Wort aufschreibt.

Eine Forschergruppe um Anne Sperling von der Georgetown University in Washington glaubt nun, eine grundlegende Ursache für Legasthenie gefunden zu haben. Die Betroffenen können Wichtiges nicht von Hintergrundreizen trennen, schreiben sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Nature Neuroscience".

Ihr Ausgangspunkt waren Zweifel an der These, dass bei Legasthenikern bestimmte Nervenbahnen vom Auge zum Sehzentrum des Gehirns gestört sind. Um lesen zu können, braucht der Mensch das Zusammenspiel von magnozellulären und parvozellulären Nervenbahnen. Die parvozellulären Nervenbahnen lassen Buchstaben und andere Details auf einem Blatt Papier klar und präzise erscheinen, während die magnozellulären Bahnen dafür verantwortlich sind, Buchstabenfolgen durch Augenbewegungen abzutasten und so die Bedeutung eines Wortes zu erkennen. Da bei verstorbenen Legasthenikern Deformationen in den magnozellulären Bahnen gefunden wurden, wurde dies lange Zeit als Ursache der Lese- und Rechtschreibschwäche angesehen.

Um dies zu widerlegen, haben Sperling und ihre Kollegen ein Experiment entwickelt: Sie präsentierten 28 Kindern mit Legasthenie und 27 Kindern ohne diese Störung zwei Bildmuster auf einem Bildschirm, die nur die magnozellulären oder parvozellulären Bahnen stimulieren. Gleichzeitig unterlegten sie das Muster mit Bildrauschen. Während die Kinder dieses Rauschen schnell herausfiltern und die Muster ungestört benennen konnten, brauchten die Legastheniker deutlich länger. Erst als das Rauschen kaum wahrnehmbar war, konnten sie erkennen, auf welcher Seite des Bildschirms die Muster auftauchten. Es spielte keine Rolle, welche Nervenbahnen stimuliert wurden.

Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass Legastheniker grundsätzlich nicht in der Lage sind, Hintergrundreize wie Bildrauschen vom Wesentlichen zu unterscheiden. Dies gelte vermutlich auch für das Hören gesprochener Wörter und sei eine wesentliche Ursache für die Störung, sagt Sperling: "Wenn ein Kind Hintergrundgeräusche nicht ignorieren kann, erschwert das die Sprachwahrnehmung und das Erkennen von Lauteinheiten." Dies wiederum ist für das Lesen unabdingbar. Das Experiment könnte unter anderem genutzt werden, um Legastheniker früher zu erkennen und ihnen durch neue Trainingsmethoden besser zu helfen.

Gerd Schulte-Körne, Leiter der Arbeitsgruppe für Lese- und Rechtschreibschwächen an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Phillips-Universität Marburg, ist weniger euphorisch. Die magnozellulären Nervenbahnen hätten in der Legasthenie-Forschung schon lange keine besondere Bedeutung mehr, und die Beweise in diese Richtung seien eher fragwürdig, sagte er SPIEGEL ONLINE. Insofern überraschen die Ergebnisse der amerikanischen Forscher nicht.

Die Schlussfolgerungen von Sperling und ihren Kollegen gehen ihm jedoch viel zu weit. Ohne ein Experiment zur sprachlichen Verarbeitung sind solche Schlussfolgerungen nicht zulässig: "Es ist unverantwortlich, daraus zu konstruieren, dass man eine neue Methode zur Diagnose von Legasthenie hat oder die bewährten Trainingsmethoden ändern muss."

SPIEGEL+-Zugang wird derzeit auf einem anderen Gerät genutzt

SPIEGEL+ kann jeweils nur auf einem Gerät genutzt werden.

Wenn Sie auf den Button klicken, spielen wir die Nachricht auf dem anderen Gerät ab und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.